Ein Song für Julia – Vorstadtprinzessin

Kapitel 1

Vorstadtprinzessin (Crank)
26. Oktober 2002

Vielleicht liegt es an mir. Aber ich hätte nicht erwartet, dass ein Mädchen, das sich in der Mitte der größten Antikriegsdemonstration seit dem Vietnamkrieg befand, so einen herrlich auffälligen Hintern haben würde.
Aber nein… da war sie, ihr Mund bewegte sich und ich verstand kein Wort. Um ehrlich zu sein, war sie extrem geil, trotz dass sie sich kleidete wie eine Bibliothekarin. Sie trug einen blumigen knielangen Rock, der ihre Beine umspielte, einen pastellfarbenen Pulli und an ihrem rechten Arm hatte sie etwa tausend Armreifen und –bänder. Ihre Augen waren auffallend blassblau, dunkelblondes Haar umrahmte ihr Gesicht. Sie hatte einen Schulmädchenblick, der dazu führte, dass ich ihr am liebsten den Nacken abgeknutscht hätte. Aus ihrem kleinen sexy Mund kam ein Schwall feindlicher Worte, der mich veranlasste, irritiert und abwehrend einen Schritt zurückzutreten.
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„Wie war das?“, fragte ich und hoffte, damit den Wortschwall zu stoppen.
Sie holte tief Luft und schloss ihre Augen. Ich grinste.
„Ich habe gesagt, dass ihr Leute jetzt noch nicht aufbauen könnt. Mark Tashburn wird gleich auf die Bühne treten… danach gibt es eine fünfzehnminütige Pause. In dieser Zeit könnt ihr aufbauen.“
Ich verdrehte meine Augen. „Und nach den fünfzehn Minuten sollen wir spielen?“
Sie lächelte, ihr Gesicht entspannte sich ein wenig. Ich denke nicht, dass sie mich mochte. Ihr Lächeln wirkte falsch. Diese kalten Augen? Ihr Lächeln erreichte sie nicht. Ich begann mich zu fragen, wie wohl ein echtes Lächeln von ihr aussehen würde.
„Genau“, antwortete sie.
„Das wird nicht funktionieren“, sagte ich. „Zum Aufbauen brauchen wir länger als fünfzehn Minuten.“
Sie seufzte. „Und warum bitte, erfahren wir das erst jetzt?“
„Hey, das ist nicht meine Schuld. Ich weiß nicht, wer die Zeitplanung für diese Veranstaltung gemacht hat, aber sie ist total daneben. Wenn ihr möchtet, dass wir in dreißig Minuten spielen, hätten wir schon vor Stunden mit dem Aufbau anfangen müssen. Es dauert seine Zeit, das ganze Equipment aufzubauen und die Instrumente zu stimmen.“
Sie war ein wenig aufgebracht und sagte: „Na schön. Versucht… versucht nur das Publikum nicht zu sehr zu stören.“
Guter Gott, egal. Sie kam in dem Moment angerannt, in dem wir begannen unser Equipment auf die Bühne zu tragen. Nicht, dass es das Publikum gekümmert hätte, es waren bestimmt hunderttausend Menschen da draußen. Horden von Hippies und Friedensfreaks und irgendwelchen „Übermüttern“, die nichts anderes im Kopf hatten, als ihre Kinder zu beschützen. Ich fragte mich zum hundertsten Mal, wie zur Hölle wir dazu gekommen waren, bei einer Antikriegsdemo zu spielen.
Natürlich war das die größte Veranstaltung, bei der wir je gespielt hatten. Aber mal ehrlich, bisher waren die Redner eine Reihe von generalüberholten Typen aus den 1960ern. Wenn das nicht zeigt, wie fernab von jeder Realität diese ganze Sache war, was dann?
Egal. Das war Serenas Angelegenheit. Ihr war die Antikriegspolitik wichtig. Und was Serena wichtig war, das tat die Band. Wir hatten keinen Manager, sie kümmerte sich um solche Sachen. Sie sang mit mir und spielte Rhythmusgitarre und sie hatte einen magischen Sinn dafür, was in der Musikwelt funktionierte und was nicht.
Wir beeilten uns, unsere Ausrüstung aufzubauen, ohne die Eingeborenen oder die Hippies aufzuscheuchen. Wir beendeten den Aufbau in Rekordzeit, und das hatten wir nicht der Prinzessin zu verdanken, die am Rande der Bühne mit einem Clipboard herumstand und Leute hin und her dirigierte.
Zwischen dem Aufbau, dem Stimmen der Instrumente und dem Beginn unserer Show hatte ich also etwa fünfzehn Sekunden um Luft zu holen, und dann ging es auch schon los. Die College-Kids im Publikum begannen sofort mitzugrooven, aber die älteren Herrschaften und die „Übermütter“… und, heilige Scheiße, davon gab es echt viele… starrten uns an, als ob die Bühne auf einmal radioaktiv verseucht wäre. Extra für sie entlockte ich der Gitarre ganz besonders scharfe Töne und sang anstatt des abgemilderten Studiotextes, den wir veröffentlicht hatten, die dreckige Originalversion unseres Songs „Fuck the War“.
Ich möchte Sie nicht in die Irre führen. Morbid Obesity ist keine Punk-Band, wir machen eher Alternative-Rock mit einem Hang zum Punk. Ich bin der Hang zum Punk. Bisher war unser populärster Song „Fuck the War“, welchen wir vor ein paar Monaten als Single veröffentlicht hatten. Es ist ein Liebeslied über meine Mutter und meinen Vater, aber man muss sich den Text genau anhören, um das zu bemerken. Ich habe beim Schreiben des Liedes eine Menge Gefühle hineinfließen lassen, und das tat ich auch, wenn ich ihn live spielte.
Es war ein perfekter Tag, um auf einer Open-Air-Bühne zu stehen: kühl, aber nicht zu kalt. Der Himmel war klar und wolkenlos, hin und wieder wehte eine leichte Brise, und vor der Bühne standen hunderttausend Menschen jeglicher Größe, Farbe und Herkunft über die verdammte National Mall verteilt. Ich hatte noch niemals etwas Vergleichbares gesehen.
Ich war gerade dabei den Refrain zum zweiten Mal zu singen, als ich zur rechten Seite der Bühne blickte und Miss Prinzessin sah. Sie groovte zur Musik. Bewegte sich sanft und ihre Lippen waren auf eine Art und Weise geöffnet, die mir den Atem raubte. Lippen, die sich zu einem Schmollmund formten. Lippen, die zum Küssen einluden. Ich musste über mich selbst ein bisschen lachen. Sie war so gar nicht mein Typ. Na ja, außer dass sie eine Frau und irgendwie heiß war. Aber trotzdem nicht mein Typ.
Als ich noch an der High School war, hatte jemand von der Verwaltung der öffentlichen Schulen in Boston aus Versehen eine Gruppe reicher Kinder aus Back Bay an die South Boston High geschickt. Es war zum Kaputtlachen. Das Ganze dauerte nur ein Jahr, und ich weiß nicht, ob es daran lag, dass jemand die Gebietszuordnung geändert hatte, oder ob die Eltern ihre Kinder von der öffentlichen Schule nahmen. Dieses Mädchen erinnerte mich an diese Kinder. Befehlshaberisch. Überlegen. Einige von ihnen hatten auf Leute wie mich heruntergeschaut, als wären wir zukünftige Kriminelle.
Ich fragte mich, ob das der Grund war, warum sie mich so antörnte.
Es führte dazu, dass ich sie gerne etwas necken wollte. Als ich also zum zweiten Refrain ansetzte, sang ich in ihre Richtung und nur für sie. Ich war beim zweiten Vers, als sie mir in die Augen sah. Ich hielt ihrem Blick stand. Ihre Augen, so abwesend und blau, waren fesselnd. Sie bemerkte, dass ich ihr zusang und erstarrte auf der Stelle, wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ich liebe es, wenn die Frauen so reagieren. Es zeigte, dass sie menschlich war. Wenn wir zu Hause in Boston gewesen wären, hätte ich nach ihr gegriffen und sie auf die Bühne gezerrt, aber das konnte ich hier bei diesem Publikum nicht machen.
Aber nach einer Sekunde sah sie mir in die Augen und grinste mich hinterlistig an, so als ob sie sagen wollte „Ich weiß, was du vorhast“. Ich grinste zurück und schmetterte meinen Text. Der Bass und das Schlagzeug sind bei diesem Song kraftvoll und verlangen förmlich, dass man tanzt. Ich beendete den Augenkontakt und bewegte mich quer über die Bühne, gab alles in meinem Solo und schrie die Worte beim Crescendo nur so heraus. Und dann beendete ich den Song abrupt.
Trotz des Schocks der Übermütter und der Lobbyisten im Publikum schrien die College-Kids nach mehr. Die Vorstadtprinzessin applaudierte und hatte dabei ein mysteriöses Grinsen im Gesicht. Ich wollte sie näher kennenlernen.
Aber das würde nicht passieren. Dies war eine Antikriegsdemonstration und keine Kennenlernparty. Sobald wir mit dem Song fertig waren, begannen wir mit dem Abbau, und das Golden Girl sprang auf die Bühne zum Mikrofon und rief: „Applaus für Morbid Obesity und ihren Hit ‚Fuck the War’!“ Ich hielt bei dem was ich tat inne, um sie mir genauer anzusehen, während sie am Mikrofon stand.
Die Menge rastete erneut aus, was toll war. Den Namen meines Songs von ihren Lippen zu hören, war noch toller. Aber fünf Sekunden später sagte sie schon die nächste Runde Sprecher an, ein Haufen fertiger Vietnam- und Golfkriegsveteranen, die die Organisatoren dieser Parade ausgegraben hatten, um ihr etwas Glaubwürdigkeit zu geben.
Mark und ich schleppten den Großteil des Equipments von der Bühne, während Pathin das Schlagzeug abbaute und Serena die Extra-Monitore und Verkabelung auseinander stöpselte. Als ich zum letzten Mal von der Bühne ging, traf mich die Vorstadtprinzessin am unteren Ende der Treppen. Ich stolperte die letzte Stufe herunter, fand mich weniger als fünfzehn Zentimeter von ihr entfernt wieder und sah hinunter in diese fantastischen Augen.
„Ihr Typen seid ganz gut“, sagte sie, ihr Kopf lag in ihrem Nacken und sie sah mich an. „Danke, dass ihr das getan habt.“
Ich zuckte mit den Schultern und grinste. „Es hat Spaß gemacht.“ Ganz gut? Das war’s? Gott, war sie mir nahe. Ich konnte ihr Parfüm riechen, den Hauch eines bezaubernden Geruchs.
„Also…“, sagte sie, und sah mir dabei in die Augen.
Peinlich.
„Wie lange geht das Ganze?“, fragte ich.
„Noch ein halbes Dutzend Sprecher, dann werden sie alle zusammen um das Weiße Haus marschieren. Vielleicht noch eine Stunde.“
Gerade als sie die Frage beantwortete, kam Mark hinzu. Unser Bassist, Mark, ist ein großer Typ, der ein Football-Spieler hätte sein können. Zumindest in einem alternativen Universum, in dem Football-Spieler zuviel kiffen und mit den heruntergekommenen Typen in „The Pit“ im Harvard Square herumhängen. Seine Augen wurden ganz groß, als ich meinen dummen Mund wieder öffnete.
„Also, wenn das hier vorbei ist, hättest du dann Lust mit mir zu Mittag zu essen?“
Ihr Lächeln verschwand für eine Sekunde und sie sah… fast verärgert aus. Ich weiß, ich trug nicht gerade einen verdammten Tweed-Anzug, aber ich bin kein Bösewicht, sie brauchte also nicht beleidigt zu sein.
„Komm schon“, sagte ich, „es ist doch nur ein Mittagessen. Ich werde nichts allzu Anstößiges machen.“
Mark sagte in einem sarkastischen Ton: „Ich denke nicht, dass sie dein Typ ist, Crank.“
Sie schloss ihren Mund, dabei wanderten ihre Augen zu Mark. Dann verengte sie sie, und ihre Lippen wurden zu einer schmalen Linie. Es sah so aus, als ob sie ihn schlagen wollte. Dieses Mädchen war echt sprunghaft. Ich mochte das. „Sicher“, sagte sie. „Wo?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ähm… ich kenne mich hier nicht aus.“
Für eine Sekunde sah sie nachdenklich aus. „Georgia Brown’s an der 15. und K-Street. Dort kann man draußen sitzen. Sehen wir uns dort… um vier Uhr?“
Ja! War ich das, oder hatte sie sich näher zu mir hinbewegt?
Mark stieß ein Kichern aus und ging davon.
„In Ordnung, wir sehen uns um vier.“, sagte ich und sah ihr nochmals in die Augen.
Ich weiß nicht, was zur Hölle ich mir dabei gedacht hatte.

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